Renate Solbach: Camera inversa | Schreibgeräte 10/1
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Wieder standen sie auf dem Aussichtsplatz des Monte Berico, lehnten sich über die Brüstung und schauten hinunter. Der Regen pausierte. Feuchter Nebel lag wie ein riesiges Laken über der Stadt. In den Straßen, zwischen den alten Häusern lag er, quoll durch Fenster und Türen. Rückte alles in eine milchige Realität, in eine diffuse Distanz.
Schweigend hatten Nora und Andreas den morgendlichen Aufstieg über die steinerne Treppenarkade, die zur Rechten der Asphaltstraße verlief, hinter sich gebracht. Bei dem ein oder anderen der verwaschenen Fresken verweilten sie einen sinnenden Moment. Der Blick durch das schmiedeeiserne Tor, das die Sicht auf einen dahinterliegenden Garten mit Villa freigab, bannte Nora jedesmal aufs Neue. Sie war eine Figur aus Akira Kurosawas Träume. Nur die Krähen fehlten. Hätte das Tor sich plötzlich geöffnet, um einen zufrieden lächelnden Casanova zu entlassen, es hätte sie nicht gewundert. Die Vergangenheit gewann an diesem Ort eine gespenstische Präsenz.
   © Acta litterarum 2009