Renate Solbach: Camera inversa
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Wieder
standen sie auf dem Aussichtsplatz des Monte Berico, lehnten sich über
die Brüstung und schauten hinunter. Der Regen pausierte. Feuchter Nebel
lag wie ein riesiges Laken über der Stadt. In den Straßen, zwischen den
alten Häusern lag er, quoll durch Fenster und Türen. Rückte alles in
eine milchige Realität, in eine diffuse Distanz.
Schweigend
hatten Nora und Andreas den morgendlichen Aufstieg über die steinerne
Treppenarkade, die zur Rechten der Asphaltstraße verlief, hinter sich
gebracht. Bei dem ein oder anderen der verwaschenen Fresken verweilten
sie einen sinnenden Moment. Der Blick durch das schmiedeeiserne Tor,
das die Sicht auf einen dahinterliegenden Garten mit Villa freigab,
bannte Nora jedesmal aufs Neue. Sie war eine Figur aus Akira Kurosawas Träume.
Nur die Krähen fehlten. Hätte das Tor sich plötzlich geöffnet, um einen
zufrieden lächelnden Casanova zu entlassen, es hätte sie nicht
gewundert. Die Vergangenheit gewann an diesem Ort eine gespenstische
Präsenz.
© Acta litterarum 2009