Renate Solbach: Camera inversa | Hannahs Traum 1/2
Das Schaf setzte den Blick frei auf den angsteinflößenden und feuerspeienden Drachen, der auf den Erinnerungen saß wie auf einem güldenen Schatz. Das Judasschaf. Wie das zusammenhing? Einfach beginnen. Kein neues Fluchtstück schaffen! Die Verführer lauern an allen Ecken und Enden. Der Traum spukte als uneingeholte Erinnerung in ihr herum. Durch diesen Eintrag hatte er sich wieder einmal zu Wort gemeldet. Die Aufgabe bestand darin, ihn angemessen zu schildern, um der Lösung und damit des Problems habhaft zu werden und ihn dann ad acta zu legen. So griff sie nun endgültig in die Tasten. –
»Hannah hörte ihren Schrei. Sie richtete sich auf und fühlte das Entsetzen als Schweiß über ihren Körper und als Tränen über ihr Gesicht rinnen. Sie ließ sich zurückgleiten und suchte in der Dunkelheit des Raumes nach Orientierungspunkten. War sie wach oder noch immer in den Labyrinthen des Traumes gefangen? Diese nicht verortbaren Erdbauten, in denen sie sich so sicher bewegt hatte. Eine Mischung aus Höhle und Bunker. Der wiedergekehrte Traum. Der Ort erweckte Vertrautheit und Befremden zugleich. Die Vertrautheit stellte sich her durch das Wiederkehrende. Die Fremdheit erzeugte das paradoxe Verhältnis zu den Räumen. Du bewegst dich in ihnen mit... ja, mit traumwandlerischer Sicherheit. Gleichzeitig siehst und empfindest du wie aus größerer Entfernung. Ein Film auf der Großleinwand der Seele. Du schaust dir selber zu. Seit der Nacht, in der er dich zuletzt heimgesucht hat, sind einige Jahre vergangen. Du erkennst ihn, als sei es gestern gewesen. Etwas aber ist anders. Die hasserfüllten, blutunterlaufenen Augen. Dem Haupt der Medusa entstiegen. Du weißt, es sind die Augen der Mutter. Der Mutter, die deinen Sohn verfolgt mit ihrem Hass.
   © Acta litterarum 2009