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Eine Frau von fünfzig Jahren
Camera inversa
Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 9/02
Claire spürte das Verlangen, für immer auf dem Balkon in und über der Landschaft zu bleiben. Das Geheimnis der Lotophagen? Nie wieder in die Alltagswelt zurückkehren.
Die ganze federleichte Existenz hing an dem Gewicht dieses Augenblicks.
»Verweile« hätte sie ihm zurufen mögen, hätte sie nicht um die fatalen Folgen solchen Ansinnens gewusst. Die Literatur hatte sie gründlich gelesen.
Einen Moment später ließ ein märchenhaftes Rauschen die Luft vibrieren. Eine dunkle Wolke ergoss sich über den Garten. Vögel. Die Zugvögel. Sie waren angekommen. Ein jedes Jahr erwartetes und anrührendes Ereignis. Der Olivenbaum im unteren Garten war einer ihrer bevorzugten Plätze. Hunderte dunkler Blüten oder Früchte, so bevölkerten sie ihn, um sich in einem beliebigen Moment – aus für Uneingeweihte nicht erfindlichen Gründen – in einer gemeinsamen Bewegung zu erheben. Das Flügelschlagen verharrte in der Luft. Eine kurze Weile schienen sie über dem Baum zu stehen, ehe sie endgültig davonstoben und sich in alle Himmelsrichtungen verteilten. Sie kamen und gingen nach einem Rhythmus, der keinen Sinn erkennen ließ. Es bedurfte keiner zielgerichteten Handlung. Sinn und Zweck fielen ohne Aufwand ineins. So sprach der Augenschein. Doch es handelte sich um eine Täuschung, denn nie waren es dieselben Schwärme, die da kamen und gingen. Sie hatte einige Zeit gebraucht, um das zu realisieren. Die Scharen auf der Durchreise (Stare vornehmlich) bevorzugten einfach denselben Baum.
© Acta litterarum 2009