Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 9/01
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Der Platz auf dem Balkon wurde zum Wunschort. Die Worte und Bilder würden sich hier direkt aufs Blatt ergießen, ohne jede Vermittlungsinstanz. Es kam ihr vor, als müssten gewisse Orte auf Erden Glück bringen, wie eine Pflanze nur auf einem bestimmten Erdreich gedeiht und anderswo verkümmert. Diese Gegend, die Landschaft, das Wetter erzählten sich selbst. Ein Fortsetzungsroman. Der Blick auf sie hätte immer auch ein Blick in Claires Seele sein können.
Die Sonne zeigte sich wieder, nachdem ein zwei Tage wütendes Unwetter die Gegend verdüstert hatte. Das Meer schien heute nicht ›es selbst‹ zu sein. Wie erstarrt lag es vor ihren Augen. Seine türkise Fläche war zum Horizont hin übersät mit weißen Verwerfungen, die in der Sonne eisig glitzerten. Ihre Konsistenz wirkte rätselhaft, aber von großer Festigkeit. Eisschollen in einem Polarmeer. Als hätte man über Nacht die ganze Gegend in eine gigantische Kühltruhe gestellt, um sie einzufrieren. Kein Lüftchen bewegte die davorliegende Hügellandschaft. Nur die Palme unterhalb des Balkons wiegte sich in einem imaginären Wind und die Zweige des Olivenbaums rauschten und schimmerten silbrig. Der verwunschene Garten.
   © Acta litterarum 2009