Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 8/18
Es war die verschleierte Machtübernahme durch eine ideologisierte Gruppe von Frauen und Männern (über Männer, Frauen und Kinder), die sie im gleichen Atemzug mit Vehemenz leugneten. Der Mann als Sündenbock? Die paternalistische Bewirtschaftung der Frauen- und Männerbilder, die keine Freiheit brachte, sondern bürokratische Verordnungen und Rechtsverhältnisse. Selbst das Intimleben wurde zur Zielscheibe von Kampagnen. Verdachts- und Misstrauensstrukturen wurden gefördert. Die inneren Blockwarte feierten ihre demokratische Wiedererweckung. Wer sich davon fernzuhalten suchte, führte die Rede von der Wichtigkeit einer erfüllten Beziehung. In schöner Unbedachtheit wurde damit dem Einzelnen als Last auf die Schultern gelegt, was Resultat einer gesellschaftlich-politischen Entwicklung war. War das die Wiedergeburt des Ausnahmemannes, den von nun an alle glücklichen Frauen – wenn es denn so etwas gab – im Munde führen mussten? Keine Helden, sondern Ritter von der traurigen Gestalt. Eine bizarre Erscheinung im wirkmächtigen Wechselspiel der Ideologien.
Claire war fünfzig. Ein Alter, in dem das, was man im Sinne der Gattung die ›biologische Pflicht‹ – so zu reden, war allerdings nur im Spiegel erlaubt – nennen könnte, reichlich erfüllt war. Sich gerade jetzt einem Bild zu unterwerfen, das sie gezwungen hätte, ihre ›Eigenart‹ zu verleugnen, dazu gab es keinen Grund. Sie war gewillt, auch weiterhin daraus zu leben, mit ihrem Mann. Sa cosa voglio. Ein Satz, der auf den Plastiktüten einer italienischen Supermarktkette prangte. War dieses ›Wissen‹ zu Kaufverhalten zusammengeschnurrt?
Woher kamen auf einmal ihr Zorn, ihr Unbehagen? Wieso wurde die ›Frauenfrage‹ mit Fünfzig zum Erkundungsterrain? Sie hatte ihr Leben gelebt, als Frau. Selbst der Blick aufs Meer schien Claire heute nicht zu besänftigen.
   © Acta litterarum 2009