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Eine Frau von fünfzig Jahren
Camera inversa
Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 8/17
Die ›Theorie‹, die keine theoretische war, entwarf ein uniformes Bild mit hermetischer Tendenz gegen Abweichungen. Diese konnten nur dem falschen Bewusstsein entspringen. Das Bewusstsein aber war ideologisch besetzt. Hier setzte für Claire der Punkt der Be- und Entfremdung ein. Die Gespräche des vergangenen Abends in dem kleinen Lokal hatten diesen Punkt umkreist. Bei Wein und Kerzen plauderte es sich angenehmer über die Probleme der Freunde und eigene, abgelegte Beziehungen.
An jenem Abend empfand ich zum erstenmal, welche Wunden Männer wie Frauen im Kampf der Geschlechter davontrugen, den keine Seite jemals gewinnen konnte.
Doch sie hatten nicht nur dem Tratschbedürfnis gehuldigt, das wohl die meisten Menschen unter vier Augen mehr oder weniger intensiv befriedigen. Es war Unbehagen und der immer wieder unternommene Versuch, zu verstehen, was da vor sich ging in unserer Gesellschaft. In der letzten Zeit war spätestens mit dem Dessert die Frauenideologie auf dem Tisch. Die Weise des Lebens, die die neuen Bilder für viele – gerade gebildete oder zumindest gut ausgebildete – Frauen bereithielt, führte erneut zu Heuchelei und Rollenkonflikten. Das Konkurrenzmodell hatte die Beziehungen längst erobert. Geschlechterkrieg.
In seinem Bewusstsein war der Krieg nach wie vor eine Metapher.
War der Mann der Schuldige, so waren er und sein Einfluss zu eliminieren oder unschädlich zu machen. Abgesehen von der Tatsache, dass es eine differenzierte Einschätzung der männlichen Seite, die mit vergleichbaren Problemen konfrontiert war, nicht zuließ, waren solche Beziehungen nicht lebbar, jedenfalls nicht als ›gleichberechtigte‹ und schon gar nicht als menschliche.
© Acta litterarum 2009