Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 8/16
Spätestens hier wurde Claire mehr als deutlich, dass ihr ›Schreibeproblem‹, wie sie es nannte, noch einen anderen Ursprung hatte, als die Konstellationen des Lebens und den permanent gelebten Aufschub. Ihre Suche musste einhergehen mit Überlegungen, welchen Sachverhalten sie ihre Sprache leihen wollte. War Schreiben eine Lebensform, so musste sich das Geschriebene mit Claires Vorstellungen vom Leben und seiner Gestaltung decken. Sie musste sich darüber klar werden, was ihr aufbewahrenswert und wichtig erschien und eine adäquate Äußerungsform dafür finden. Eine Form der Zeugenschaft und der Wahrhaftigkeit, die ihren Überzeugungen entsprach und eine Sprache, die für einen künftigen Leser die Dinge, die ihr wichtig waren, plastisch werden ließ. Der Feuersalamander. Das aber wiederum hieß, nicht auf einen zukünftigen Leser zu schielen, sondern sich selbst zu erforschen und das Material so auszubreiten und zu befragen, dass die Ergebnisse für sich sprechen konnten und überzeugten. Es hieß sich der Aufgabe aller Schreibenden zu stellen: die eigene Sprache finden. Eine Sprache, die an der Grenze operierte, im Zwischen von Leben und Literatur.
Es kam sicher nicht von ungefähr, dass das Thema ›Frauen‹ Claire zur Zeit so beschäftigte. Sie war ärgerlich geworden. Das Bild von den Schlingpflanzen, das sich angesichts des verwunschenen Gartens aufgedrängt hatte, schien ihr nicht schlecht gewählt. Die Frage der Freiheit wurde zur Frage des Überlebens. Raum gewinnen zum freien Atmen und Entwerfen. Abwehr gegen eine übermächtige Tendenz, die im Gewande des Lebens daherkam und alles Eigene zu ersticken drohte.
   © Acta litterarum 2009