Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 1/2
Die dem Ort eigene Schönheit. Eine Schönheit, die sich nicht aus der Idylle speiste. Diesmal war er sogar reichlich verwildert. Schicht um Schicht galt es, die vergangenen Ereignisse, die sich wie Hüllen vor den Blick geschoben hatten, zu entfernen. Was nicht hieß, sie zu vergessen, sondern sie vergehen zu lassen, sie in die angemessene Zeitform zu versetzen: ›passé simple‹. Sie sollten fortleben und als Überlebte zurücksinken in den Kosmos allen Geschehens. Ganz anders verhielt es sich mit dem Ort, der Valéry zum Cimetière marin inspiriert hatte. Um nachzuvollziehen, was Valéry gesehen und in Verse gefasst hatte, musste die Vergangenheit sprechend werden. Eine Straße, ein Gebäude, kurz, die banale Gegenwart hatte sich – den Blick irritierend – dazwischen gedrängt.
Claire saß im Garten, eine Decke über sich gebreitet, die Arme im Nacken verschränkt und ließ den Blick über die Landschaft gleiten. Diese Landschaft, die ihr zugleich vertraut und fremd erschien. »Mediterran eben«, pflegte ihr Mann zu sagen, wenn sie wieder einmal einen ihrer Beschreibungsversuche unternahm.
Bereits am Tage nach ihrer Ankunft wurde der Blick aus dem Fenster gefangen genommen von einem Schauspiel der Natur, das ihre theoretisch erworbenen Kenntnisse über unterschiedliche Weltwahrnehmungszustände in ein sinnliches Bild fasste. Es war die Jahreszeit der schnell wechselnden Himmel. Helle und dunkle Wolken jagten einander, trachteten sich abzulösen, um die darunterliegende Landschaft – bunt bewaldete Hügel, an deren Hängen sich mal mehr mal weniger dieser im südlichen Stil erbauten kleinen Villen herumdrückten – in ihre wattige Präsenz zu tauchen.
   © Acta litterarum 2009