Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 2/1
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Es gibt Orte, an die man zurückkehren muss, um zu bemerken, dass nicht die mit ihnen verbundenen Traumata uns gefangen halten, sondern das Netz des vergangenen Alltags. Ein Netz, das uns Festigkeit und Halt gab und nicht so leicht abzuschütteln ist. Wie Fett und Küchengerüche hatte es sich in Poren und Zellen eingenistet und dort ein ungeniertes Eigenleben geführt. Die alltäglichen Fäden, die einen vor allem mit den Kindern verbinden, irreal sind in gewisser Weise, mögen sie Sorge, Verantwortung, Erwartung, Ahnen oder Wissen heißen. Mit dem realen Stand der Beziehung haben sie nichts mehr zu tun. Kinder als Stütze des Alters? Ein Spruch von Leuten, die nicht gewillt waren, loszulassen oder die keine Rente zu erwarten hatten. Du hattest diese Kinder geboren, sie aus dir ›herausgesetzt‹ und sie waren – unmerklich – deine Umgebung, wie die Luft, die du atmetest. Sie verhinderten Gefühle von Angst und Einsamkeit durch ihr schieres Dasein und du gabst ihnen die notwendige Geborgenheit. Jetzt, da sie erwachsen sind, ist dieser Zustand aufgehoben. Und doch ist da etwas, das fortbesteht, in dir, das ständig erwartet, sorgt und sich verantwortlich fühlt, ohne dass ein angemessenes Objekt vorhanden wäre. Dies zu erkennen und sich davon zu befreien, um endlich ›wirklich‹ frei zu leben, ohne dass sie hätte sagen können, wie man sich das vorzustellen habe, war Claire hierher zurückgekommen, in einer Ahnung und einem Wollen, dass es so sei.
   © Acta litterarum 2009