Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 1/8
Mit dem Willen zu dieser Freiheit war sie hierher gekommen, und erst das Schrillen des Telefons hatte die letztjährige Verfasstheit für einen kurzen Moment wieder hergestellt. Als erwarte sie den strafenden Neid der Götter. Das war derselbe Moment gewesen, der alle Ängste und Erwartungen zurück fließen und ihr zu Bewusstsein kommen ließ, dass es nicht die vergangenen Traumata waren, die sie heimsuchten, sondern etwas anderes. Ein Leichteres, das schwerer zu vertreiben war. Ein Gespinst, zäher und stabiler als jede Zentnerlast. Aber zwei gelassene Engel haben mir den Eintritt immer verwehrt; der eine zeigt das Antlitz des Freundes, der andere das Gesicht des Feindes.
   © Acta litterarum 2009