Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 1/7
Sie ließ den Blick wieder über die Landschaft gleiten. Woher rührte diese Faszination? Der Eindruck, der das Gefühl von Fremde und Nähe hervorrief, entstand nur auf eine gewisse Entfernung hin. Entstand nur, wenn kein Mensch in Sicht- oder Hörweite war. Er war auch nicht spezifisch für diese Gegend, stellte sich im mediterranen Frankreich ebenso wie in manchen Landschaften Italiens ein. Nicht Differenzierung, sondern das Zusammenfließen unterschiedlicher Bilder rief ihn hervor. Das Verfahren eines befreundeten Künstlers schien ihr angemessen als Vergleichsbasis. Er zeichnete auf Folien, deren Zusammenspiel im Druck das gewünschte Bild ergab. Der Effekt war wohl kalkuliert und nur durch den Künstler exakt zu bestimmen. Bilder, Musikstücke, Lektüren, Reiseerfahrungen. Lauter ›Folien‹, die sich in unterschiedlicher Farbigkeit übereinander schoben. Das Bild der Landschaft aus vielen Bildern und Stimmungen rief Leichtigkeit und Heiterkeit hervor, die nur aus satten und sonnengetränkten Gegenständen fließen konnten. Man gibt sich hin, man bleibt und merkt erst allmählich, dass dieser allzu strahlende Glanz der Seele nichts zu geben vermag und nur ein maßloser Genuss ist. Dann möchte man zum Geist zurückfinden. Ihr fehlte die Schwere der nordischen Gegenden. Auch die eigene Existenz verlor viel davon unter diesem südlichen Licht. Leicht und heiter verlagerte sich der Schwerpunkt nach innen, einer verborgenen Quelle zu, die alles speiste. ...was der Augenblick gab, war alles. Und die Augenblicke folgten aufeinander, ohne notwendig zueinander zu gehören. Der Tag hat genug an seiner Mühsal. Der Augenblick hat genug am Schein der Wirklichkeit. Sie konnte die Magie des Ortes frei auf sich wirken lassen.
   © Acta litterarum 2009