Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 1/6
In diesem Zustand, den sie ›maurisch‹ nannte, war kaum zu unterscheiden, ob der Raum träumte oder die Person, die ihn enthielt. Aller Zauber der Vergangenheit war versammelt – keiner bestimmten, sondern der, die als Empfindung aufstieg, dachte man Vergangenheit als golden und ungreifbar. Eine Vergangenheit, die nicht wirklich vergangen war, da ihre Erwartungen und Sehnsüchte fortdauerten. Die Worte und Bilder würden sich direkt aufs Blatt ergießen, ohne jede Vermittlungsinstanz. Es kam ihr vor, als müssten gewisse Orte auf Erden Glück bringen, wie eine Pflanze nur auf einem bestimmten Erdreich gedeiht und anderswo verkümmert. Trat man auf den Balkon, war man zugleich in und über der Landschaft.
Beim Abschied hatte Claire die Tochter an sich gezogen und erwartungsvoll angeschaut. »Wir fahren in den Süden, du weißt...« Sarahs Gesicht rötete sich sanft. Sie wünschte ihnen gute Reise und einen angenehmen Aufenthalt. »Ach ja, und Superwetter natürlich, ich weiß, wie nötig ihr die Sonne habt.« War es Gedankenlosigkeit oder Scheu? Wahrscheinlich weder das eine noch das andere. Wohl eher die lebensnotwendige Entschiedenheit der Jugend. Bereits als Kind hatte Sarah sie besessen. Die Puppe unter den Arm geklemmt, steuerte sie selbstbewusst und entschlossen ihr Ziel an. Umso verwirrender der Einbruch in jenem Jahr, der diesen Ort in einen des Bangens und Schreckens verwandelt hatte. Jedes Telefonschrillen verhieß neue Unheilsbotschaften. Claire schlug nach der Mücke, die schon zum drittenmal an ihrem Ohr vorbeisurrte.
   © Acta litterarum 2009