Acta litterarum
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Renate Solbach
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Eine Frau von fünfzig Jahren
Camera inversa
Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 1/5
Der zweite Blick war ein anderer. Nüchtern. Wissender. Das Gerede einer Zunft, das sich über dieses einem Kanon zugehörige Bildungsgut ergoss, zerrann vor der Genauigkeit des zweiten Blicks zu mäanderndem Gemurmel. Man musste schon jung oder sehr ehrgeizig sein, um ihm Glauben zu schenken. Die Texte behandelten psychische Vorgänge, die im Leben angesiedelt und leicht nachvollziehbar waren. Es war jene Art ehrlicher Ernüchterung, die sich einstellte, sobald die jugendlichen Ideale abgearbeitet und den eigenen Urteilen und Wertvorstellungen gewichen waren. Urteile, die sich nicht länger einer Überhöhung oder Glorifizierung biologisch determinierter Handlungen und Empfindungen verdankten, sondern dem analytischen Blick, der Distanz zu den eigenen Entwürfen und Verirrungen zuließ. Einem Blick, der – neben aller Ernüchterung – Ausdruck einer Befreiung war. Erwachen aus einem Rausch, der im Nachhinein so anziehend wie lächerlich wirkte. Sei es der Rausch der Jugend mit ihren Träumen, sei es die Berauschung an den Moden und Launen der eigenen Generation.
Ein paar Tage hatte es gedauert, bis Claire bereit gewesen war, sich hier niederzulassen. Ihre Scheu war verständlich. Im Gegensatz zu den übrigen Räumen des Hauses schien dieser selbst nach all der Zeit bewohnt. Mit geöffneten Läden, der heruntergelassenen Markise, die ihn in ein geheimnisvolles Halbdunkel zurückfallen ließ, wirkte er in der Mittagssonne, als warte er auf seinen Bewohner.
© Acta litterarum 2009