Anne Corvey: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 1/4
Claire schloss die Augen und ließ sich von den wärmenden Strahlen der herbstlichen Mittagssonne durchfluten. Was bedeutete es, jenseits der Fünfzig noch einmal anzufangen – wenn man es so nennen wollte? Wahrscheinlicher war, dass sie einfach fortfuhr in einer Tätigkeit, die man pathetisch gestimmt zuweilen ›leben‹ nennt und die sie wohl vor Jahren unterbrochen hatte. Eine Handarbeit, beiseitegelegt, um Wichtigerem nachzugehen und ebenso ungerührt und beiläufig wieder aufgenommen, nachdem das erledigt war. Der ganze federleichte Nachmittag hing an dem Gewicht dieser Minute. Sie war frei zu tun und zu lassen, was sie wollte. Äußerlich. Das Schrillen des Telefons schreckte Claire aus ihren Gedanken. Beklommenheit und leichte Panik bemächtigten sich ihrer. »Ja?« Eine Automatenstimme, die sie spontan als männlich einordnete, schnarrte ihr aus dem Hörer entgegen. »Allô! Allô!« Sie legte auf, holte sich aus der Küche frischen Kaffee und verzog sich mit einem Buch auf den Balkon des Raumes, in dem sie sich zum Schreiben und Nachdenken, was immer auch Lesen hieß, häuslich niedergelassen hatte. Madame Bovary. Bereits das dritte Buch. Die dritte Enttäuschung.
Claire erinnerte sich genau. Das war eines der Bücher gewesen, die sie am liebsten vor den Augen der Welt versteckt hätte. Ihr Buch. So als könne jeder, der es las, auch in ihr lesen. Es verstecken vor den Augen einer Welt, die es seit langem zur Kenntnis genommen und vielfältig interpretiert hatte. Das Vibrieren des ersten Blicks war Vergangenheit. (Oder war es November gewesen?)
   © Acta litterarum 2009