Anne Corvey: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 1/3
Wo wartete die Wirklichkeit? Wo, in all dem Gewimmel? War die Begegnung mit ihr ein Zusammenprall? Manchmal vermag ein Ausschnitt der Natur alle Gedanken einzufangen. Wenn sie die Wörter wie Hasen jagten. Stetigkeit, Plötzlichkeit, Übergang waren für einen Moment nicht nur Begriffe. Flüchteten ins Bild wie Hilfesuchende ins Kloster – durch die Seitentür,  die Tag und Nacht offen stand, warteten bis die Meute vorüber war, wurden Farben, Formen, Empfindungen für diese Zeit.  Es war ein einfaches Bild. Links und rechts eine  Baumgruppe mit ein bis zwei Häusern im Hintergrund. Die rechte Gruppe entschwindet mit einem Mal. Sie zieht sich hinter geschichtete Gewänder aus Wolkenschleiern zurück, die ihre Existenz nur mehr erahnen lassen – trübt sich ein. Die linke Gruppe hebt sich dagegen scharf ab: mit dem Messer ausgeschnitten. Das dauert wenige Minuten. Dann geben die Wolkenschleier die rechte Gruppe frei, wandern weiter und das Schauspiel vollzieht sich erneut, diesmal in umgekehrter Richtung.
Die Empfindung der Landschaft als Metapher. Weder der eine noch der andere Blick ließen die Wirklichkeit zutage treten. Sie waren aufeinander bezogen, entliehen ihre Wahrheit vom je anderen Zustand. Das Schauspiel der Natur als Bild betrachtet, erlaubte die friedliche Koexistenz von Sachverhalten, die, in Begriffe gefasst, sich in einem unaufhörlichen, notwendigen, argumentativen Streit befanden – für einen Moment. Einen Moment der Ruhe und des Besinnens. Einen Moment unzweideutiger Empfindung. Den Begriffen Asyl geben im Bild. Ihre zweite Staatsbürgerschaft. Eine Form des Begreifens.
   © Acta litterarum 2009