Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 3/1
3
Claire - hell, klar, sauber, glänzend. Je vois claire. Der Name der Verkäuferin an der Kasse bei Carrefour. Von dem Schild über ihrem Busen sprang er ins Auge. Ein Hinweis.
Claire hatte den Schreibtisch auf den Balkon gestellt und ihre Schreibutensilien um sich versammelt. Sie wollte die Sonne genießen, solange es möglich war und die kleine Markise gab den nötigen Schatten.
Klar sehen. Mit sich ins Reine kommen. Was hieß das? Noch einmal beginnen, jenseits der Fünfzig? Jenseits eines gelebten Lebens? Jenseits der Irrtümer und Wirren? Jenseits der Mutterschaft? Etwas zu Ende bringen und etwas Neues werden lassen? Was aber war das?
Das Meer, die Berge, die Häuser, die Menschen darin. Lauter Schicksale. Lauter Geschichten. Geschichten, die sie schreiben konnte. Oder auch nicht! Auf ihrem Schreibtisch lag Le Monde diplomatique, die ihr Mann von einem Spaziergang mitgebracht hatte. Ein Satz löste sich aus dem Gewimmel der Buchstaben und fiel in ihr morgendliches Bewusstsein: Les héros sont fatigués!
Nichts von alledem kannte sie ›wirklich‹. Was sie kannte, war ihr Blick darauf. Der erschien mit einem Mal blass und farblos. Selbst das Rauschen des Windes wusste mehr zu berichten über die Dinge, die er umstrich. Leere formte sich. Unsagbare Leere. Sog alles auf, was in ihre Nähe geriet. Absolut. Umfassend. Das Meer?
   © Acta litterarum 2009