Anne Corvey: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 3/2
Frei sein. Frei von den Zwängen des Lebens, ja, warum nicht vom Leben selbst? Gab es solche Freiheit? Oder war das der Tod? Blieb nicht immer ein Rest? Der scharfe Schnitt zwischen Tag und Nacht. Was bedeutete es heutzutage, Frau zu sein? Gab es für sie einen Ort? Einen Ort, der sie ›freiließ‹? Nichts Einnehmendes, nichts Beschriftendes. Nur der Ort und du. Ihr seht euch an und seid im Einklang. Oder war das romantisches Gefasel? La mer! Mauer oder endlose Fläche. Spielte das eine Rolle? Die Jahre, die aufsteigen, sind dieselben Jahre nicht mehr. Licht und Schatten fallen noch einmal auf unser Gesicht, das aber gefasst bleibt. Das sollte uns nicht erstaunen?
Plötzlich erneut diese Furcht. Könnte es jemals gelingen, aufzuschreiben, was sie erfüllte? Sich noch einmal entwerfen, schreibend nun endlich. Erst die Schrift gab die klare und unveränderliche Gestalt. Reine Gedanken, unnotiert, zogen dahin, wechselhaft und unverbindlich wie Wolken am herbstlichen Himmel. Produzierten Stimmungen, Gefühlslagen. Keine Stetigkeit. Die Schrift brachte Einsicht und Klarheit. Die Schrift legte fest. War Fülle und Leere. War umfassend. Wie das Meer. Erzeugte das Branden in ihrem Kopf, den Schlag der gischtigen Wellen gegen das Ufer. Die Leere, die der Überfülle so sehr glich. Mit einem Mal schien sie ihr gut und heilsam. Aus ihr konnte – waren alles Vergangene und selbst der Moment, der sie umgab, hineingeflossen – Neues entstehen. Neues, das stets ein Altes war. Hingegeben lauschte Claire ihren Klängen. Warum bloß habe ich nicht früher damit begonnen! Man ist nicht richtig wach, wenn man nicht schreibt. Und man hat keine Ahnung, wer man ist. Ganz zu schweigen davon, wer man nicht ist.
   © Acta litterarum 2009