Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 4/1
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Feiner Brandgeruch stieg ihr in die Nase. Die Schwaden, die vorbeizogen, verdankten sich einem der herbstlichen Feuer, die zu dieser Jahreszeit überall entzündet wurden, um Gartenabfälle zu entsorgen. Beinah wäre sie aufgestanden, das Feuer zu erspähen. Doch eine zähe und fordernde Trägheit bannte sie an ihren Platz. Der Brandgeruch, der nicht nur an Kartoffelfeuer und Ferienlagerromantik erinnerte, passte ganz gut, hatte man sich erst einmal daran gewöhnt, ihm hier zu begegnen. Das große Martinsfeuer auf dem Schulhof. Heimelig und unheimlich zugleich. Starr vor Schrecken war Claire gewesen. Jeder Brandgeruch aktivierte die Erinnerung aufs Neue. Mutig die Männer, die das Feuer in Gang brachten und hielten. Väter von Kindern aus der Umgebung. Der Verwegenste unter ihnen war der Vater ihrer Freundin. Ein Vater, den sie ihr neidete. St. Martin persönlich. Eine kleine Unvorsichtigkeit – die Familie hatte fünf Kinder, lauter Mädchen, das sechste war unterwegs und alle hofften inständig, dass es diesmal ein Junge würde. Eine winzige Unvorsichtigkeit – im Nachhinein konnte niemand genau sagen, worin sie bestanden hatte – verbrannte ihm Haar und Gesicht. In Flammen stehen. Entstellung. Verwandlung. Mehrere Jahre war Claire nicht mehr zu bewegen gewesen, diesem Schauspiel beizuwohnen.
   © Acta litterarum 2009