Anne Corvey: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 3/4
Ohne die geringste Vorahnung, in vollkommener Unwissenheit, werde ich eine unsichtbare Wand durchschreiten, hinter der nichts ist, nicht einmal Dunkelheit. Mein nächster Schritt, er kann der Schritt durch diese Wand sein. Ist es nicht unlogisch, davor Angst zu haben, wo ich dieses plötzliche Erlöschen doch gar nicht mehr erleben werde und weiß, dass es sich so verhält? Aber, dachte Claire, war der Schrei, wie sie es nannte, wirklich Angst? War er nicht vielmehr Erschrecken vor der Wahrscheinlichkeit spurlosen Verlöschens? Fassungslosigkeit angesichts des für den Menschen unaufhebbaren Skandalons. Mit Wissen und Logik war das nicht auszuradieren. Im Gegenteil. Ich weiß, aber ich kann es nicht glauben.
Claire fühlte sich weit weg, nahezu entrückt von allem. Auf dem Balkon saß sie in und über der Landschaft. Der Landschaft, die auf einmal unheimlich war, unnahbar, von Menschen erzeugt und doch jenseits alles Menschlichen. Endgültig abgewiesen suchen wir Trost im Vergessen, das man Erinnerung nennt.
   © Acta litterarum 2009