Anne Corvey: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 3/3
Mittendrin aber, immer wieder auch – das war neu – der ›erstarrte Schrei‹. Lautlos, durchdringend. Unheimlich. Ein Resultat dieser Landschaft? Die Kehrseite der wohltuenden Wirkung? Ihr Körper hat, wie auch sonst, eher begriffen als ihr Kopf, dem nun allerdings die schwere Aufgabe des Nacharbeitens bleibt, den Schreck aufzuarbeiten, der ihr in den Gliedern sitzt. Das ›Nicht-mehr-Sein‹. Tod. »Unmöglich!«, sagte der Kopf. Der Körper war längst von der schauernden Ahnung durchzogen, die nicht zum Herzen vordringen durfte. Es stünde still. Mit einem Mal schien es Claire, als ob all das, was sie über die Jahre behindert hatte, was sie ›weghaben‹ wollte oder zu ignorieren versuchte – Angst, Einsamkeit, die Mühen des Denkens, die Banalität des Lebens – einfach zu ihr gehörte: ihr ›Selbst‹.
Der Gedanke eines Jenseits muss dem Willen zur Transzendenz entsprungen sein, dem reinen Wollen. Der Unfähigkeit des denkenden Ich, sich als nicht mehr vorhanden zu denken. Den Körper? Ja, warum nicht? Aber den Geist? Individuation, einmal vollzogen, war nicht mehr rückgängig zu machen. Keine Hingabe an irgendeine sanfte und weise Religion vermag darüber hinwegzutäuschen, sie gar zu revidieren, dich zurückzuführen auf den Weg der kosmischen Einstimmung. Sicher gab es Menschen, denen solche Hingabe oder Beschäftigung wohl tat, verhinderte, dass sie in die Fänge schlechter Therapeuten gerieten oder die beruhigenden Wirkungen der modernen Pharmazie zu spüren bekamen. Mit Individuation im Sinne von ›Personwerdung‹ vertrug sich solche Einstimmung nicht. Sie forderte das ›sacrificium intellectus‹, eine Unterwerfung, die mit dem freien Denken, Erwägen und Verwerfen nicht zu vereinbaren ist.
   © Acta litterarum 2009