Anne Corvey: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 5/1
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Einen Beruf ergreifen – eine Berufung: Schriftstellerin. Nur unter der Bettdecke hätte Claire sich getraut, diesen Satz auszusprechen. Selbst dort hätte sie ihn geflüstert. Ein leises Zögern überzog ihre Gedanken: Etwas war falsch an dem Satz. Schriftstellerin sein hieß schreiben, hieß in einem Material arbeiten, das sie von jeher fasziniert hatte: in Worten.  Aber als Beruf? Bedeutete einen Beruf haben, das zu tun, wozu man sich berufen fühlte? Gerade diese Frage verursachte das leichte Zögern. Es war zu wenig und zuviel zugleich. Im Zeitalter forciert geforderter Berufstätigkeit, im Zeitalter der Karrieren verhinderte das ›Berufsein‹ einer solchen Tätigkeit das, worauf es ihr ankam. Zudem fehlte ihm dieses kleine angehängte ›ung‹, die Berufung. Das war das Zuviel. Hätte es sich um eine solche gehandelt, ihr Leben hätte eine andere Form finden müssen. Der permanent gelebte Aufschub variierte die in jungen Jahren hingebungsvoll diskutierte Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das ›Frausein‹. Vielleicht jedoch war diese Betrachtungsweise ganz und gar falsch. Vielleicht war sie den Verschiebungen geschuldet, die diese Begriffe oder besser ihre inhaltliche Auffüllung in einer Gesellschaft erfahren hatten, die sich als Arbeitsgesellschaft verstand, deren Ökonomie die ›totale Mobilmachung‹ – die Fortsetzung des Krieges mit kapitalistischen Mitteln – erforderte.
   © Acta litterarum 2009