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Eine Frau von fünfzig Jahren
Camera inversa
Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 6/1
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Claire war an diesen Ort zurückgekehrt. Sie war die alten Wege abgeschritten, hatte vergangenen Gedanken nachgespürt, den üblichen Einkaufsbummel hinter sich gebracht und ihre Beute lächelnd vor den Blicken ihres Mannes ausgebreitet. Sie hatte viel gelesen und ihre täglichen Schreibstunden auf dem Balkon absolviert. Sie hatte nichts zu erzählen. Schlimmer noch, das Erzählen war ihr langweilig geworden in seiner Beliebigkeit. Lag das Ziel nicht auf einer anderen Ebene, konnte sie es ebenso lassen. Schreibend sich Klarheit verschaffen. Hieß das, immer auch das Schreiben reflektieren?
Am liebsten schrieb sie über das Schreiben.
War das unbedingte Bedürfnis zu schreiben nicht genug? Schreiben als Legitimation des Lebens? Funktion der Journale und Cahiers?
Sie glaubte nicht, dass sich die Dinge an verschiedenen Orten gleich ergeben konnten, und da ihr bisheriges Leben so freudlos gewesen war, musste das, was ihr noch bevorstand, bestimmt besser sein.
Die Erinnerung lag vor ihr. Eine ebene Landschaft. Gleichmäßig und ruhig von der Sonne erhellt, die ihre Tätigkeit wieder aufgenommen hatte. Die Dinge waren neu wie am ersten Tag. Oder war es der Glanz ihres Vergangenseins, der sie neu und kostbar erscheinen ließ?
Und wieder stand sie mit pochendem Herzen vor einer Tür, von deren Existenz sie einen Moment zuvor noch keine Ahnung gehabt hatte.
© Acta litterarum 2009