Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 6/2
Der Blick vom Balkon in die Bucht war ein anderer heute. Am Ende der Hügellandschaft lagerte wellenverwöhnt und selbstvergessen das Meer. Zwei dunkle Seen, getrennt durch einen glänzenden Streifen, der sich zur Mitte hin immer mehr aufhellte, ein strahlendes Türkis annahm, das sich langsam dem Horizont entgegenstreckte und in dessen Helligkeit eintauchte. Es schien nicht möglich, zwischen beiden eine Grenze zu ziehen. Und doch war der Horizont deutlich markiert. Das Meer. Klar geschieden und unendlich bewegt von vielen sonnenbeschienenen Wellenkämmen. Silberschuppiges Meer. Ein verzaubertes Ungeheuer, das seine Gefahren wohl verborgen in der Tiefe hielt. Als leuchtende Fahrrinne zog sich der türkise Mittelstreifen durch die beiden Dunkelzonen. Unmissverständlich die Aufforderung, ihm zu folgen. Die einzig gangbare Strecke.
   © Acta litterarum 2009