Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 7/1
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Mehrfach im Leben schon hatte Claire sich entscheiden müssen. Die Richtungen und Möglichkeiten waren stets vielfältig gewesen. Für die Art des Personseins, die sie anstrebte, war es gleichgültig, ob ihr Weg in die Ehe oder an den Nordpol, ins Seminar oder in die sengende Sonne fremder Kontinente führte. Das war nur die materiale Ausprägung. Als sie begann, sich Vorstellungen und Werte zuzulegen, versprach das Leben, eine unendliche Fülle von Möglichkeiten bereit zu halten: Es waren der Hochmut und die Naivität der Jugend, die einen glauben machten, die Welt stehe offen, sobald man nur losstürme, -marschiere oder -gehe – je nachdem welche Bewegungsweise einem angemessen erschien. Dennoch bekam Claire sehr schnell eine Ahnung davon, dass bestimmte Ausprägungen, sagen wir, Berufe oder Lebensweisen, ihr aus Gründen verschlossen sein würden. Priester zum Beispiel oder Prostituierte, Mörderin oder Filmstar, um einige zu nennen. Die Hierarchie der Werte stand bereits fest – wenn auch auf eher ahnungsvolle Weise. Dieselbe Ahnung gab ihr schon damals den Gedanken ein, dass Werte unter verschiedenen Konstellationen eine andere Färbung annahmen und immer wieder daraufhin überprüft werden mussten, wie sie gelebt werden konnten.
   © Acta litterarum 2009