Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 7/2
Dieses Mal war es anders. Diesmal gab es nur die Entscheidung zwischen ›richtig‹ und ›falsch‹. Kein richtiges Leben im falschen. Oder umgekehrt? Das Leben war an einem Punkt angelangt, der keine Abirrung zuließ. Fünfzig Jahre, ein halbes Jahrhundert. Sie spürte die Kälte, die der Wind heute – aller Sonne zum Trotz – mit sich führte, bis in die Knochen. Nur der Kopf war klar und frei von Empfindungen. Gibt es überhaupt etwas zu entscheiden, wenn alles deutlich vor dir liegt? Gibt es ein neues Leben nach dem alten? Ich antwortete, man wechsele nie das Leben, eins sei so gut wie das andere, und mit meinem sei ich ganz zufrieden. Schreiben war weder Beruf noch Berufung. Schreiben war eine Fortbewegungsart. Fort von den Schemen des Lebens, hin zu einer Gestalt, die den Worten den Spielraum eröffnete, den sie brauchten, um ihre irisierende Kraft zu entfalten. Metonymische Rede. Klar geschieden. Unendlich bewegt. Kleine sonnenbeschienene Wellenkämme auf der Oberfläche des Ungeheuers: La mer!
   © Acta litterarum 2009