Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 5/5
Trotzdem. Man schreibt nur für sich. Die Welt da draußen ist unwesentlich und wesentlich zugleich. Man schreibt, um eine Stimme auszubilden. Ob sie gehört wird? Ob sie Resonanz erzeugt? Wo, wann und von wem, entzieht sich – und in gewisser Weise ist das gut so – dem eigenen Bestreben. Gebt heiße Hände! / Gebt Herzens-Kohlenbecken! Schreiben heißt Schreiben, heißt einen Buchstaben neben den anderen setzen und immer wieder anschauen, was entsteht, heißt, ein anderes Leben führen in einem fundamentalen Sinne. So war es nötig geworden, die Fäden des vergangenen Lebens zu kappen, ohne es zu entwerten oder zu verdammen. Das Vergangene vergangen sein lassen. Die Kinder waren keine Kinder mehr. Sie existierten losgelöst von ihr, waren eigenständige Wesen. Waren wie ein fertiger Text, den man in die Welt entlässt. J’en étais sûre, et c’est bien pourquoi je t’ai emmenée au-delà des portes de cette maison: tu dois être seule à m’entendre. Schreiben hieß schreiben über alles und nichts.
   © Acta litterarum 2009