Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 5/2
Ein gefährlicher Gedanke, der im Wort von der mobilen Gesellschaft sein euphemistisches Dasein fristete. Der Dichter, dem man die Brotarbeit abverlangt, denn Dichtung ist keine Arbeit und Arbeitsverweigerung keine Lösung, oder will er den anderen auf der Tasche liegen?, unterläuft die öffentliche Moral, indem er gleich erklärt: Le prisonnier ne travaille pas, und die Revolte in Permanenz gegen die Arbeits-Doktrin gilt ihm als (beschränkte) Freiheit. Er hatte sich in seinem Leben, auch von aufgeklärten Künstlern, die glaubten, der vernünftige Mensch sehe zu, dass er sich selbst erhalte, genügend Meinungen anhören müssen, auch das Wort Parasit war gefallen, auch schon sein Vater sei ein Taugenichts gewesen...
Es ging Claire nicht darum, das Schreiben zum Beruf zu machen, mit dem sie sich einen sozialen Status erwarb. Preise, Erfolg, Ruhm. Leicht verderbliche Ware. Schriftsteller sollten keine Warentermingeschäfte tätigen. Dies große Freudenfeuer des Ruhms, es verbrennt in ihnen eine Substanz, die von da an ihren Werken fehlt. Schriftsteller sein hieß, das Leben in eine andere Sphäre versetzen. Nicht Abwesenheit von Leben, wie es sowohl ihnen wie auch den Intellektuellen allzu oft vorgeworfen wurde. Überführung in eine halt- und greifbare Form. (Den Begriff ›Sublimierung‹ vermied Claire sorgfältig, da er inzwischen ein Stadium erreicht hatte, das signalisierte: ›Schreiben anstelle von Leben‹. Wie es so häufig das Schicksal von Begriffen war. Am Ende ihrer Karriere fielen sie oft genug mit dem zusammen, gegen das sie angetreten waren. Die Desublimierung war längst auf dem Vormarsch.)
   © Acta litterarum 2009