Acta litterarum
►
Impressum
►
Renate Solbach
►
Camera inversa
►
Eine Frau von fünfzig Jahren
Camera inversa
Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 5/3
Hätte Frau Bovary Schriftstellerin werden können, um ihr Leiden am Leben zu heilen? Claire stutzte einen Moment. Die Frage war amüsant, da hätte sogar ein Flaubert leise schmunzeln können. Frau Bovary war keine Person, sie war ein sozialer Typus. Sie existierte, da ein Schreibender sie ersonnen, den mannigfaltigen Ausprägungen weiblichen Lebens abgeschrieben hatte. Sie selbst hätte sich nie so erschaffen, denn Madame Bovary war eine Frau, die vom Leben erwartete, dass es ihr etwas bot, dass es sie unterhielt.
Ihr eigenes Leben aber war kalt wie eine Bodenkammer, deren Fensterchen nach Norden lag, und lautlos wie eine Spinne wob die Langeweile im Dunkeln ihr Netz in den Winkeln ihres Herzens.
Reichtum des Herzens konnte sich verausgaben. Er konnte sich entäußern in vielfältiger Weise, in künstlerischer, also auch in schreibender Manier. Schreiben war Leben in einer anderen Form. Das war keine soziale Vokabel, sondern signalisierte die notwendige innere Distanz vom unmittelbaren Leben und trivialen Alltag.
Ihrem Herzen war es ähnlich ergangen: bei der Berührung mit dem Reichtum war etwas haften geblieben, das nie wieder auszulöschen war.
Es gibt dieses Leben, es gibt den Alltag, nie bist du völlig losgelöst, doch du hast den Blick, der erlaubt, die Dinge zu transzendieren, ihnen eine symbolische Haltbarkeit zu verleihen. Zwar, die je eigene Sprache verging mit dem individuellen Tod, nicht aber ›die Sprache als solche‹ – solange es Menschen gab.
© Acta litterarum 2009