Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 4/3
Das Leben war in gewisser Weise an Claire vorbeigegangen – kein Zeichen prangte an ihrer Tür –, ohne dass sie die Empfindung ausgebildet hätte, etwas versäumt zu haben. Im Gegenteil. Leben ist Leben und nichts sonst. Ist dein Leben und nicht irgendeine anonyme Macht. All die vielen einzelnen Leben. Die zweite Stufe der Individuation. Die Stufe, die es zu erklimmen galt. Sich ins Verhältnis setzen zu den Verhältnissen und zur Macht. Es war wie mit den Jünglingen im Feuerofen. Die Frauen glühten mit den Öfen mit. Ein Bild, das ihr spontan eingeleuchtet hatte. Anmaßend in gewisser Weise. Chananja, Mischael und Azarja weigerten sich, ein Götzenbild anzubeten und bekannten ihren Glauben auch auf die Gefahr hin, dass sie sterben würden. Und sie mussten nach menschlichem Ermessen damit rechnen, dass sie zu Tode kommen, wenn sie ins Feuer geworfen werden. Bei welchen Temperaturen entstand widerständiges Denken oder schmolz es dahin? Im Rumänien Ceaucescus waren die Menschen gehalten, die Räume nicht wärmer als 17 Grad zu heizen.
Zu glauben, dass das Feuer die nicht ergriff, in denen es brannte, war anmaßlich jenen gegenüber, die für ihre Überzeugungen verbrannt worden waren – indessen das Feuer wirkt, verzehrt sich der Mensch. Der Wind schien gedreht zu haben, der Brandgeruch hatte nachgelassen. Im Übrigen: es war nur ein Bild!
   © Acta litterarum 2009