Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 10/02
Etwas war falsch an der Frage. Zwei Ingredienzien einer Person waren Kontinuität und Entwicklung. Hörte sich an wie ein Kochrezept. Kontinuität in was? Haltungen und Verhaltensweisen, die auf Urteilen und Wertentscheidungen basierten? Entwicklung schien stattgefunden zu haben. In welcher Hinsicht aber? Was wickelte sich da aus? Die Möglichkeit der Verwechslung lag im Raum. Das Vergehen der Zeit, der man aus Gründen der Mess- und Benennbarkeit Einheiten zugeordnet hatte, die durchschritten werden mussten, begleitete einen Prozess der Verwandlung, den man, da er unumkehrbar war, Altern nannte. Altern hieß zeitlich gesehen: Zunahme der Vergangenheit und Abnahme der Zukunft. War das bereits Entwicklung?
Immer ließ man etwas hinter sich und richtete die Erwartungen nach vorne. Eine Zukunft. Das Leben als Strecke. Gab es ein Zurück? War Entwicklung Fortschritt oder war es falsch, die Fortschrittsvokabel in diesem Zusammenhang zu bemühen, da sie etwas Lineares be- oder andeutete, während es in Wahrheit um andere Formen ging? Ein Hin und Her? Kommen und Gehen? Wieder eines dieser Paradoxa, auf die man unentwegt stieß. Entwicklung vollzog sich – an (oder in?) einem. Die passive Seite der Sache. Ließ man einfach alles über sich ergehen, geschah nichts. Entwicklung hatte auch eine aktive Seite: Handlung und Reflexion. Und wo stand bei alledem ›die Person‹? Gab es sie überhaupt? War sie nicht stets das Konglomerat mehrerer, vieler anderer – Wesen oder Personen? Galt es, die Stimmen zu vereinigen oder war das der Tod der Person? Welche Stimme übernahm die Führung? Demokratisch ging es jedenfalls nicht zu in Personen, denn wer sollte dann die Entscheidungen treffen?
   © Acta litterarum 2009