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Eine Frau von fünfzig Jahren
Camera inversa
Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 10/03
Brachte die Rückschau Klarheit oder Erkenntnis? Existenz aus Erinnerung.
Das dumme und nicht abstellbare Überlegenheitsgefühl. Man hat soviel erlebt. Dabei Unbehagen an der Gegenwart. Angst vor der Zukunft. Der Glaube, dass nichts mehr kommen wird. Keine Liebe, keine neue Freundschaft – ist eine neue Freundschaft wirklich unmöglich? –, es sei denn das Altersheim, schlimmster aller Albträume, mein Ekel vor anderen Alten zum Dauerzustand gemacht; Breughel und Dante durch Gummibäume, Dürerhasen, helle Rüstermöbel auf gelbgesprenkelten, nach Wachs riechendem Linoleum in unser Jahrhundert transportiert, immer weniger Berge und schließlich keiner mehr...
Viel hatte sich ereignet in den vergangenen Jahren. Claire hatte Haltungen und Einstellungen überdacht. Sie hatte Beziehungen beendet und neue begonnen. Sie hatte ihren Namen geändert. Eine Befreiungstat, die eine Veränderung des Blicks und einen unbefangeren Umgang erlaubte. Das Leben, dieses modische Wetterfähnchen, war gedreht und gewendet, um den kommenden Stürmen zu trotzen. Aus welcher Weltgegend aber waren sie zu gewärtigen? Der beunruhigende, dunkle Kontinent, war das wirklich der weibliche?
All diese Fragen und Handlungen hingen auf eine für Claire momentan undurchsichtige Weise mit dem Problem des Schreibens zusammen.
Écriture feminine?
Das Problem des Schreibens war der Wunsch.
Wenn der Tod ohnehin feststeht, ist der Verzicht auf Schreiben seine Verdopplung. Wer wüsste von Achmatowas Gedichten, wenn sie, dem gesellschaftlichen Druck nachgebend, Krankenschwester geworden wäre?
Wahrscheinlich nicht einmal sie selbst.
© Acta litterarum 2009