Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 11/01
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Entfaltung und Verdichtung. Nach und nach ordnet es sich um den dichtesten Punkt, um sich genau an dieser Stelle wieder zu verlaufen. Das Geschriebene neigte sich dem Ende zu. Die Zeichen trogen nicht. Erst allmählich war sie hineingekommen. Es währte lange, ehe sie sich einigermaßen gewiss zu werden begann. Und dann überschlug sich alles. Der Gang der Dinge wurde schneller, die einzelnen Seiten kürzer. Entfaltung und Verdichtung. Vollkommen entfaltet, zog es sich wieder in einen Punkt zusammen.
Der Anfang der Geschichte, wenn es eine und wenn es ihre Geschichte war, lag in den Überlegungen der jugendlichen Claire, die sich – auf der Basis ihrer ausufernden Lektüren –, ein Ziel gesetzt hatte. Kein inhaltliches, das die Wahl eines bestimmten Berufes, eines Lebensstils und was noch dazugehörte, erfordert hätte, sondern ein ›formales‹: Die Ausbildung einer bestimmten Weise des Person-Seins, mit allen Konsequenzen und Implikationen, die ein solches Konzept mit sich bringt. In Zeiten, in denen der Tod des Subjekts, des Autors und aller intellektuell und geistesgeschichtlich relevanten Dinge unablässig verkündet wurde, war das keine Selbstverständlichkeit gewesen. Wieso verkündet? Die tägliche Vorführung im massendemokratischen Medium genannt Glotze, hatte dieses Blei wie das Schicksal von Lots Weib ins Gemüt der sehenden Bevölkerung gesenkt. Auf der Basis ausdifferenzierter weltumspannender Informationsmöglichkeiten feierten Desorientiertheit und Verwirrung neue Rekorde. Nicht selten schlugen sie in Interesselosigkeit und Konformismus um.
   © Acta litterarum 2009