Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 10/09
Der gut präparierte Raum und die Drohung des leeren Blattes. Du bist nur für deine Arbeit hier, und nur deine Arbeit darf dich hier beschäftigen. Das einzige, was du jetzt noch brauchst, ist ein Zimmer. Ganz schlicht muss es sein. Die Wände weiß, ein Tisch am Fenster, im Hintergrund das Bett und irgendwo ein Nagel mit einem Kleiderbügel. Es kann auch ruhig schmal sein, die Sicht darf geradewegs auf eine Mauer treffen, der Boden muss weder glatt noch sauber sein, die Glühbirne kann kahl von der Decke hängen und das Bett darf zu weich oder zu hart sein. Nur ruhig soll es sein, denn sonst hättest du auch zu Hause bleiben können. Claire lächelte verschmitzt – sah man davon ab, dass jede Tätigkeit, die den ganzen Menschen erforderte, früher oder später Krisen produzierte, die es zu überstehen galt, machte Schreiben Spaß. War es, abgesehen von allem Groll, auch eine Quelle ungestörter Erheiterung, die den Worten entsprang. Durch die Literatur kehrten die Wörter heil zu uns zurück. Die Sprache: ein Paradies aus sichtbaren, hörbaren, tastbaren und schmeckbaren Wörtern.
To write fiction! Welches Leben sollte sie in die Fiktion verlängern? Das Naheliegende wäre das eigene, das tatsächliche – eigentümliche Mischung aus Tat und Sachen. Aber war es das gelebte? Bestand es nicht zu gleichen Teilen aus Gelebtem und Ungelebtem, aus Realem und Imaginärem – aus welchen Gründen auch immer Verworfenem? Die Trennung von Kunst und Leben liegt im Unterschied, in dem man ein erfundenes Fädchen symbolisch oder real als Spur (Knäuel oder Ariadnefaden) legt. All die Neuanfänge, die stets an einem bestimmten Punkt endeten. Wieviel musste man tatsächlich leben? Wieviel Freiheit gab es und wieviele Leben konnte man auf diese Weise absolvieren? Woher die erneute Ängstlichkeit? Wozu all diese Fragen?
   © Acta litterarum 2009