Anne Corvey: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 11/02
Doch wo Gefahr ist wächst das Rettende auch und so feierten die medialen Kampagnen für das erfüllte Leben der (berufstätigen) Frau mit Kind – keine Sendung ohne Kind – inzwischen fröhliche Allgegenwärtigkeit. Demokratisch ausgefuchste Propaganda oder Volkserziehung?
Claire hatte sich ›entworfen‹ unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sie  weiblich war. In die Person, die zu werden sie beabsichtigte, implantierte sie alle ›Werte‹, die ihr wichtig und notwendig erschienen. Die jugendliche Claire wollte Gefährtin eines Wesens werden, das dieselben Werte vertrat, dieselbe Art von Person war oder werden wollte. Der Weg dorthin – ein gemeinsamer, immer wieder tastend und suchend gefundener Weg, sollte sie beide und die Art ihrer Beziehung formen. Nur die leiblichen Personen, die keine heterosexuellen Beziehungen im Rahmen der Familie, die die Fortpflanzung als Zweck und Telos der Sexualität begreift, unterhalten, fechten die Kategorie des Geschlechts effektiv an – oder sind zumindest keine Komplizen... Claire hielt einen Moment im Schreiben inne. Lange hatte es gedauert, einen großen Teil ihres Lebens, bis sie eine solche Person gefunden hatte. Die üblichen Irrtümer, das Beziehungstheater. All die Verwechslungen und Vertauschungen, Unsicherheiten in Bezug auf die Menschen, die ihr begegneten, eigentümliche Analogien und Verstrickungen. Hatte sie diesen Weg bewusst gestaltet oder hatte sich alles schicksalhaft ereignet, wie in einer antiken Tragödie? Bestand ihre Aufgabe lediglich darin, den verborgenen und versteckten Motiven nachzuspüren? Eine nicht zu unterschätzende Anstrengung.
   © Acta litterarum 2009