Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 11/03
Mitten hinein in Claires Überlegungen drängte sich eine Figur. Sie hatte ein Knäuel in der Hand. Ariadne. Ein Wollknäuel, das ihr als Leitfaden diente auf ihrem Weg durchs Labyrinth. Es ist ein vielfach geknüpfter Knoten, den feministisches Denken sich zu entwirren aufgemacht hat. Und an allen losen Enden gleichzeitig müsste gedröselt und gezogen werden. Der Blick nach hinten, auf den bereits ausgelegten Faden, bot Orientierung für die Zukunft, keineswegs jedoch die Möglichkeit, ihn als Wegweiser zu nutzen, um zurück zu finden. Es gab keinen Weg zurück, da es keinen Ort gab, an den sie hätte zurückkehren können. ...als er es aufgegeben hatte, den Faden im Labyrinth der Moderne weiterzuspinnen, den Ariadnefaden, den Ausgang und das Ziel eintauschend gegen die Penelopearbeit des Vergessens und Erinnerns, des Auftrennens und Verknotens... Das Labyrinth des Lebens war von anderer Art als das, in dem Minotaurus saß. Der Ausgang lag am Ende. Mit dem Eingang war er nicht identisch. Insofern war das Bild als Bild des Lebens ein falscher Metapherngebrauch, der sich wie ein roter Faden durch die Literatur zog.
   © Acta litterarum 2009