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Eine Frau von fünfzig Jahren
Camera inversa
Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 11/04
Immer gab es nur den Weg, der vor ihr lag und darauf wartete, vom Faden ihres Knäuels berührt zu werden, um sich so als der ihre zu erweisen. Das mutete paradox an, erwies sich aber bei eingehender Betrachtung als einleuchtend. Wie oft war sie an Gabelungen, die eine existenzielle Entscheidung erforderten, zurückgewichen vor der Strecke, die in gesellschaftlichem Sinne die gebotene gewesen wäre. Ihr Knäuel leitete sie. Oft genug wählte sie von außen schwer nachvollziehbare Umwege, getragen von dem Wissen, dass sie im Sinne einer inneren Ökonomie so gehen musste, ohne Wissen um das ›Warum‹. Wenn überhaupt stellte es sich erst viel später ein. Die Umwege erwiesen sich als gangbar. Oft genug war der Aufschub, der sie von ihrem Ziel zu entfernen schien, ein sinnvoller. Die Gefahr bestand darin, ihn zum Grundprinzip zu machen. Was mehrfach die glückliche Wahl war, ist es nicht per se. Aufschub ist nicht gleich Aufschub, ist auch Sammeln und Warten.
Wie immer sie gelebt hätte, heute würde sie auf diesem Stein sitzen, mit dem Verdacht im Herzen, den falschen Weg gegangen zu sein. Das Leben war einfach zu stark, um bewältigt zu werden.
Manchmal war es geboten, sehr langsam zu gehen, sich nicht zu übereilen, sich zur ›Herrin der Zeit‹ zu machen, zumal, wenn von außen alles drängte. Manchmal aber, in Zeiten, in denen kein Handeln notwendig schien, war es wichtig, der Unrast nachzugeben, die aus einer nicht näher zu bestimmenden Tiefe heraufdrängte, und unverzüglich zur Tat zu schreiten. Die Orientierung bot in jedem Falle das Knäuel, das unentwirrt in ihrer Hand lag und dessen entrollter Teil eine Wirkung entfaltete, die im nicht bewussten Bereich verharrte. In der Tat ein eigenwilliger Kompass. Sich leiten lassen von einer Identität, die eine gelebte und aufgeschobene war. Eingang und Ausgang waren nicht identisch und mussten doch zusammenfallen, wollte man sich nicht mit einem Fragment begnügen. Das war der Ernstfall. Im Leben wie im Schreiben.
© Acta litterarum 2009