Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 11/05
Claire ließ das Schreiben schreiben sein und ging ins Bad, um sich stadtfein zu machen. Sie warf einen kritischen Blick in den Spiegel, ordnete ihr Haar, zog die Lippen nach mit einem der schimmernden Gloss-Stifte, die in diesem Herbst Mode waren und legte eine Spur Roma auf. Die Duftnote für den Mann, die war weniger süßlich. Im Flur warf sie den frisch erworbenen Trenchcoat über. Ein Kleidungsstück, das sie in den unterschiedlichsten Ausprägungen seit drei Jahrzehnten begleitete, und das ihrem außerhäuslichen Auftritt eine gewisse Festigkeit verlieh. Die Tasche nicht vergessen! Wichtiges weibliches Utensil. Die Wahl der Handtasche war so schwierig wie die Wahl des Partners. Claire ging zur Tür, zog mit leichtem Seufzer die Schultern hoch, wandte den Blick zur hinteren Wand, an der ein großer Spiegel hing und lächelte dem Gesicht, das ihr daraus entgegentrat, entschuldigend zu.
Sie war in ihren Überlegungen an einen Punkt gelangt, an dem die Evidenz sich zusammenrollte und verwirrte. Das Entfaltete dehnte sich zurück in diesen einen Punkt, der – eben noch greifbar – sich nun mit Lichtgeschwindigkeit ins Unerreichbare entfernte. Sie ließ ihn fahren und machte sich auf den Weg in die Gässchen der Altstadt. Ablenkung würde ihr gut tun. Was immer sie gelernt haben mochte auf ihren Erkundungsreisen, ein solcher Augenblick war nicht der geeignete Zeitpunkt zuzugreifen. Sie konnte und durfte nicht versuchen ›es‹ – was immer das sein mochte – zu erzwingen. Eines hatte sie gelernt: die Bahnen ihres Kosmos waren verlässlich. Früher oder später, wer weiß auf welchen Wegen, würde dieser Punkt zurückkehren, unangemeldet würde das, was ihr nun entglitt, in der Türe stehen, ein leises Lächeln auf den Lippen »Hier bin ich« und sich ihr in die Arme werfen, um zu einem Teil ihrer selbst zu werden.
   © Acta litterarum 2009