Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 10/04
Ging Claire am Faden ihrer Erinnerungen zurück, so sah sie – wie konnte es anders sein – das Paar, auf das alles zulief. Der Wunsch war es gewesen, der beide verband und unterschied. Ihn und die Frau. Ihn und die Tochter. Er hatte sich einen Sohn gewünscht und der unerfüllte Wunsch bestimmte das Verhältnis zur Tochter von Anfang an. Er wünschte sich ein Wesen wie er eines war. Ein Wesen, das unbegrenztes und unvermitteltes Verstehen erlaubte. Wie das auszusehen hatte, verblieb im Dunkel, da die Vorstellung nie aus der Wunschsphäre herausgetreten war. Sein Vater war zu früh gestorben. Von den Frauen – allen voran Mutter und Schwester – war dieser frühe Tod in eine Art Schuldzuweisung verwandelt worden. Er hatte sie im Stich gelassen. Er hatte durch seine Abwesenheit, die mit dem Tod eine absolute geworden war, die Verhältnisse so gestellt, wie sie sie deuteten. Ihr ganzer Zorn und Unmut trafen den kleinen Jungen, das einzig greifbare männliche Wesen. Der Unmut wandelte sich in Forderungen. Forderungen, die ein Leben lang an ihm haften blieben. Gefedert und geteert. Forderungen, die zu erfüllen er nicht in der Lage war, so sehr er es versuchte oder ersehnte. Das Versagen war bereits eingebaut, jeder seiner Handlungen – in ihren Augen.
   © Acta litterarum 2009