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Eine Frau von fünfzig Jahren
Camera inversa
Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 10/05
In ihren Augen war es zu sehen. Diesen falschen Spiegeln. Ihren Worten war es eingeätzt, so sehr, dass das Gift sich übertrug, langsam aber unvermeidlich auch in seine Seele sickerte und sein Denken und Handeln imprägnierte. Diese Mischung, etwas nicht zu sein, das er sich so sehr gewünscht hatte und etwas nicht sein zu dürfen, was die Frauen – auch die, die er geheiratet und mit der er dieses Kind gezeugt hatte – repräsentierten, prägte sein Verhältnis zu ihr, Claire, der Tochter. Damit aber war die Unmöglichkeit einfach zu sein auch in sie eingepflanzt. Bis zu seinem Tode blieb unklar, was er von ihr erwartete.
Der Wunsch der Mutter aber, ein Abbild ihrer selbst zu schaffen, blieb ebenso unerfüllt. Keinem von beiden konnte Claire sich zuneigen. Beider Forderungen waren unerfüllbar, mussten abgewehrt werden. Aus reinen Überlebensgründen. Inmitten dieses Wechselspiels aus Forderung und Ablehnung versuchte sie, zu erkunden wer sie war. Tatsache war, dass es sie im ›Kern‹ erfasste und dort seine Wirkungen entfaltete. Die eigentliche – für manches Leben tödliche – Botschaft blieb ihr erspart bis sie dreizehn oder vierzehn war. Die Botschaft, die die Mutter ihr in einem Moment tiefster Verzweiflung zukommen ließ: dass es Claires in der Schwangerschaft der Mutter sich ankündigende Existenz war, die dem ablehnenden und schuldzuweisenden Verhalten zugrunde lag. Es war ihre Schuld.
Dass es dich gibt...
Dagegen schien der Vorbehalt des Vaters zweitrangig, ging es doch nicht um die Frage der Existenz, sondern um die des Geschlechts. Sie hatte das falsche, aber das ließe sich mit ein wenig Aufwand reparieren.
© Acta litterarum 2009