Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 10/06
Perfektionisten waren beide. Jeder auf seine Weise und in Beziehung auf seine Vorstellungen. Das hatte Claire übernommen. Ohne Umweg. Was immer sie machte, musste sie gut machen. Reichten die Kräfte nicht aus, war das persönliches Versagen. Sie musste beide sein und sich von beiden absetzen. Und das perfekt. Welche Rolle bliebe da? Welches Geschlecht bliebe übrig? Ein drittes gab es damals nicht. Für uns gibt es nicht ein oder zwei, sondern viele Geschlechter, so viele Geschlechter wie Individuen. Zeit ihres Lebens hegte Claire die Überzeugung, jeder, der ihr so nahe komme, dass er ihr ›wahres Wesen‹ erkenne, werde sie früher oder später ablehnen. Von früh an daran gewöhnt, Geheimnisse zu bewahren. Sich mit ihnen zu umgeben, einen Wall aus ihnen zu bauen, hinter dem sich leben lässt. Verschleiern, Masken tragen, Rollen spielen. Es geht niemanden etwas an, wie ich wirklich bin. Niemals war es ihr möglich gewesen, dieses Wesen zu beschreiben, zu sagen, worin es bestünde. Jede rationale Überlegung erwies die Vorstellung als das, was sie war: eine Chimäre. Wie es nun einmal das ›Wesen‹ von Chimären ist, half diese Einsicht nicht weiter. Chimären besitzen kein fest umrissenes Wesen, das, was man so nennt, verbleibt im Bereich des Schillernden, Flackernden. Unfassbar, unbestimmt und damit auch unangreifbar. Einsam als Eigenschaft. Nach innen leben. Sich selbst leben. Kontakte suchen, aber nicht bereit Geheimnisse preiszugeben.
   © Acta litterarum 2009