Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 10/07
Im Laufe der Jahre entwickelte Claire sich zu einer Person, die nicht nur bei anderen den Anschein von menschlicher Souveränität erweckte. Für alles zahlt man seinen Preis und der ihre bestand in der Wand, die sie von den Emotionen der Kindheit und Jugend trennte. Die beiden Personen aber – ihr ›Urpaar‹ – lebten in ihr. Ihre Anwesenheit grundierte alles. ›Männer‹ und ›Frauen‹ sind politische Kategorien und keine natürlichen Tatsachen.
Ein klatschendes Geräusch, gefolgt von einem dumpfen Aufprall riss Claire aus ihren Gedanken. Das Blendwerk der großen Scheibe hatte wohl wieder einmal den Flug eines Vogels jäh gestoppt. Sie nahm sich vor, bei einem ihrer nächsten Einkäufe ein paar dieser hässlichen Aufkleber zu besorgen, die die Vögel warnen sollten.
Die Erschaffung der Person aus der Ablehnung ihrer Existenz in zweierlei Hinsicht. Die Entstehung aus der Negation, die sie ins Sichtbare trieb – die Verneinung wie die Person. Alles andere ergab sich daraus. Alles andere baute auf diesem Grund, der ein Abgrund war. Doch war das in irgendeiner erzähl- oder benennbaren Weise spezifisch? Was wäre anders, wenn sie ein Wunschkind gewesen wäre? War nicht auch das ein Abgrund? Der Abgrund, den jede Realisierung unweigerlich mit sich führte? Die stets zu hoch geschraubten Erwartungen, die dem Wunsch das Licht ausknipsen. Wessen Wunsch? Die Praxis so mancher Wunschkindmutter schien für das wissenschaftliche Klonen eine echte Konkurrenz. So oder so erbaute man sich aus den Wünschen anderer: Für oder gegen sie.
   © Acta litterarum 2009