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Rosa, die kleine Messnerin ihrer Kindheit hing an einem Seil, das sie mit jedem Ton in die Höhe riss. Das Läuten der Glocken gehörte zu Rosas Tätigkeiten im Dienst der Kirche. Der schwarze Rock flatterte im imaginären Wind und gab den Blick frei auf ein dürres Paar bestrumpfter Beine in Knöpfelschuhen, deren einer Absatz höher war als der andere. Rosa wohnte in einem winzigen Zimmer in dem Fachwerkhaus gegenüber der Kirche. Hier hatte sie Wohnrecht auf Lebenszeit. Rosa war wie eine dieser Figuren aus Büchern. Ohne Vergangenheit, ohne Zukunft. Nur vorhanden, wenn du es aufschlägst. Und nie hatte jemand gefragt, wo sie sich die übrige Zeit befand. Dreimal täglich machte Rosa sich auf den Weg, die im Laufe der Jahre immer stärker befahrene Straße zu überqueren, die das Haus von der Kirche trennte. Sie lag an einem Hang und Claire beobachtete hinter der Gardine Rosas angestrengte Versuche, die Steigung zu überwinden. Wie sie – einen Halbkreis beschreibend – das rechte Bein hervorholte, es entschlossen gegen die Steigung in den Boden rammte und sich in der darauf folgenden Bewegung auf das nachstrebende Bein zurückfallen ließ. Eine Drehbewegung aus der Hüfte heraus, ein Sichhochschrauben eher als ein Gehen. Mühsam erschien es allemal. Je älter und größer Claire wurde, desto faszinierender wirkte diese Vorstellung auf sie. Immerhin war Rosa eine Person, die man als erwachsen anzusehen hatte, deren Verhältnis zu dem zu überwindenden Weg aber aufgrund ihres Körperbaus dauerhaft der kindlichen Perspektive verhaftet bleiben würde. War Rosa auf ihrem Weg zum Glockenturm hinter dem Kirchenportal verschwunden, für dessen Öffnung sie Kräfte jenseits ihrer Grenzen zu aktivieren schien, Kräfte, die man in früheren Zeiten vielleicht übermenschlich genannt hätte, dann entrang sich Claire ein Seufzer. Nun war nur noch die Treppe zu erklimmen und Rosa konnte ihres Amtes walten und sich in die Lüfte erheben. ›Entschweben‹ wie eine Erscheinung. Er will jede ihrer Bewegungen erfassen, den Tanz in unendlich viele Posen und Tempi zerlegen. Vor allem den Ausdruck im Augenblick des Entschwindens festhalten, ihm Dauer verleihen. Rosa eine Geschichte andichten. Eine Geschichte wie die von Louise. Längst ist bekannt, dass Eltern dazu neigen, den Kindern Namen aufzuhalsen, unter denen sie lebenslang gebückt gehen müssen. War Rosa ein Opfer? Hatte sie eine solche Geschichte? Einen Buckel hatte sie, verwachsen war sie und sehr klein. Kein Mann hatte sich je für sie interessiert. Jedenfalls hatte man nie davon gehört. Sie war kein Single, sondern eine alte Jungfer, wie das zu ihrer Zeit hieß. Auf der Suche nach geeigneter Vergangenheit. In der letzten Zeit sah sie Rosa andauernd an ihrem Seil hängen – im Gegenlicht. Der leiseste Glockenton genügte. Dong – dong dong – dong. Auf – ab – auf – ab. Am Karfreitag reisen die Glocken nach Rom. So erzählte man den Kindern. Das Licht lässt sich nur durch das Dunkel verstehen und die Wahrheit setzt den Irrtum voraus. Jedem Irrtum der Sinne entsprechen seltsame Blumen der Vernunft. Prachtvolle Gärten der absurdesten Glaubensüberzeugungen, der Vorahnungen, Zwangsvorstellungen und Delirien. An manchen Tagen ähnelt sie seltsam einer erdolchten Taube.