8
Wo der Himmel uns trennt, vereinigt uns Schweigen. Lilith – das war der plötzliche Übergang von Zukunft in Vergangenheit. Vor einigen Monaten eine erfolgversprechende Nachwuchswissenschaftlerin war sie nun ›draußen‹. Endgültig, für immer. Aus und vorbei. Begraben der Lebenstraum unter einem Wust anmaßender, heuchlerischer und letztlich tödlicher Worte. Und Rosa? Eine einzige Kirche stand noch auf ihrem Plan und die würden sie morgen absolvieren. Sechs Wochen waren so schnell vergangen wie sechs Tage. Die Auszeit, die sie sich hatte gönnen wollen nach den tragischen Ereignissen der vergangenen Monate, war so gut wie vorbei. Sie hatte Pascal von seiner himmlischen Seite kennengelernt und war es zufrieden. Die Schafsnatur war nur eine Maske. Wie er dastand in seinen hellen Wanderstiefeln, die geöffneten Lippen wehrlos gegen den hellen Himmel, als wollte die Welt mit Gewalt in ihn einströmen… Was war mit Rosa? Auf mysteriöse Weise mischten sich die Geschichten von Rosa und Lilith in ihrem Kopf zu einer. Was hatten sie gemeinsam? Äquilibristische Existenzen sie beide. Doch was hatte das zu bedeuten? Wieso war die Geschichte von Rosa aus der fernen Vergangenheit aufgetaucht? Äquilibristen auch die Sirenen. In ihrem Element. Das Glockenläuten und die Sirenen pflegten eine enge Verwandtschaft. Was im einen Fall die Klippen Skylla und Charybdis erledigten, die den Tod bedeuteten, wenn man sich auf sie einließ, das war im anderen Fall die Gesellschaft. Oder genauer gesagt der Zeitgeist, der den Blick in die emanzipatorischen Abgründe der Gesellschaft verbot. Ein Mensch wie Lilith, der sich kein falsches Bewusstsein einreden lassen wollte, der diese Formel für eine neue Form der Bevormundung von Frauen (durch Frauen?) und eine Infragestellung ihrer rechtlich verankerten Gleichstellung, der Mündigkeit und Selbstverantwortung hielt, konnte nur als Mensch verschwinden … bei diesem schier unglaublichen Blau tagsüber, das sich dem Blick immer weiter entzog, der Himmel, der Schritt um Schritt zurückwich, und du …
die Figur der Sirenen, der verordnete Mensch... Man konnte seine Einsichten und Einstellungen auf- und sich dem Zeitgeist anheim geben, der wohl auf den Namen Kirke hörte oder die von Lilith gewählte Lösung vorziehen und von dieser Erde verschwinden. Sein Überleben als Text schien somit gesichert. Der Tod um seinen Stachel beraubt. Der Mensch in seinem Menschsein bewahrt. Als Frau? Das Buch roch, und es war wie alles andere von Würmern zerfressen, die immer noch in seinen gelben Seiten lebten, und es war über und über mit Asche bestäubt. Man hatte es weggeworfen, weil es nicht mehr die richtige Sprache sprach, und die Menschen konnten es nicht mehr lesen, weil sie den Weg zu seiner Welt nicht mehr fanden.