Acta litterarum
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Eine Frau von fünfzig Jahren
Camera inversa
Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 8/2
Man ›entdeckte‹ die alten Folien. Nicht immer vollzog sich das chronologisch. Es gab Fort- und Rückschritte. Die antike Frau. Die Frau im Mittelalter und der frühen Neuzeit. Die Frau, das unverstandene Wesen. Die Frauen der Nazis. Abenteurerinnen und Pionierfrauen. Die Frau, das unbekannte Wesen. Die Frau im Recht. Die Frau, der fortwährend Unrecht geschah. Das Geschöpf aus Männerhand. Gefährtin aus der Rippe. All diese Folien und zahlreiche andere legte man übereinander, die Originale natürlich, und ließ die Farbe durchscheinen, wo immer man sie haben wollte. Stets stellte sich das gewünschte Ergebnis ein. Die Frauen waren besser, klüger, weise, dem Leben zugetan. Sanft und friedlich, aber auch kraftvoll und entschlossen. Sie liefen, schwammen, dachten ebenso – oder unter Anrechnung des ungleichen Körperbaus und -gewichts vergleichsweise – gut wie der Mann. Die Frauenideologie hatte die Frauenbewegung besiegt oder besser überwuchert. Sie – die Ideologie natürlich, denn aufgeklärte Personen hätten nie und nimmer so gehandelt und Risiken und Nebenwirkungen besprechen sie besser mit ihrem Arzt oder
Apotheker
– trieb es wie die Schlingpflanzen in dem verwunschenen Garten auf den Claire vom Balkon aus schaute.
© Acta litterarum 2009