Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 8/3
Ein bestimmter Zustand der Verwilderung war ihnen äußerst zuträglich. Harmlos und lebensfrisch kamen sie daher und überwucherten die anderen Pflanzen. Sie neigten sich ihnen zu, legten sich über sie und behinderten ihr Wachstum mit dem eigenen Blätterwerk. Hatten sie sich erst einmal eingenistet, waren sie nur schwer wieder zu entfernen. Sie boten Dornen und Widerhaken. Sie traktierten sowohl ihre Gastpflanzen als auch die gärtnerische Hand, die sie zu entfernen suchte. Ihre Form war dem normalen Blätter- und Rankenwerk so ähnlich, dass es lange dauerte, ehe man in ihnen das Unkraut erkannte. Was das Auge nicht sieht und der Kopf nicht weiß, das existiert nicht. Die Dornröschenhecke musste eine solche Beschaffenheit haben. Blieb zu hoffen, dass unter ihr nicht alles Leben erstickte. Im Leben ging es selten zu wie im Märchen und die Befreiung mussten die Frauen selber leisten, wollten sie nicht hundert Jahre auf den Prinzen warten.
Claire rieb mit den Händen die entblößten Oberarme, um das leise Frösteln zu vertreiben, das sich auf einmal bemerkbar machte. Die Sache hatte noch einen Haken. Was als Befreiung daher kam, erwies sich als Aufgabe. Tag für Tag, Stunde für Stunde, Minute für Minute, Sekunde für Sekunde. Aber manchmal empfand sie, dass der Geschmack dieser Freiheit ebenso schal war wie zu lange gekautes Kaugummi. Freiheit ist ein Menschenrecht, eines das man einklagen kann.
   © Acta litterarum 2009