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Eine Frau von fünfzig Jahren
Camera inversa
Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 8/4
Nicht jedoch seine Realisierung. Freiheit ohne Inhalt ist eine Chimäre. In dieser Hinsicht war sie Aufgabe, eine, die jede Generation, jeder Mensch neu auf sich nehmen musste. Claire war sich dieser Tatsache ebenso freudig wie schmerzlich bewusst. Die Frauenideologie war – in Anlehnung an einen der aktuellen Diskurse – ›anschlussfähig‹. Neuerliches Heilsversprechen? Tributpflichtig wie stets. Sacrificium intellectus. Ganz Frau oder lieber katholisch? Il Papa!
Am Morgen bemerkte sie, dass ihr Gegenüber sie begehrlich anstarrte, und sie begriff, dass sie endlich allein war. Es gab keinen Vater, Gatten oder Freund, der sie schützen konnte. Sie saß nicht mehr im Schoß der Familie, eingesperrt, aber behütet und geliebt. Die Freiheit starrte ihr entgegen aus den kalten, lüsternen Augen dieses fremden Mannes.
Die Freiheit, der Freiheit der anderen zu begegnen. Claire erinnerte sich an Träume aus der Studentenzeit. Liebe als freie Begegnung freier Menschen. Eine Chimäre auch das?
Ein Bilderbogen rollte vor ihren Augen ab. Sie sah sich noch einmal in mancherlei Situationen. Sah sich Entscheidungen treffen und deren Folgen ertragen. Sah sich im Liegestuhl unter Pinien, mit Buch und Sonnenbrille bewaffnet, ihr weiteres Leben bedenken in jenen letzten, der Erinnerung eingebrannten Ferien mit der Familie. Ein leichter Wind brachte Kühlung an diesen zwielichtigen Ort. Der Geruch von Lavendel zog leise vorbei. Die Stimmen der Badenden wehten zerlegt und gefältelt herauf. Claire liebte es, sich von diesem so bunten wie banalen Treiben fern zu halten.
© Acta litterarum 2009