Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 8/5
Nie hatte sie sich die Frage gestellt, ob sie emanzipiert sei. Von was? Man lebt in seiner Zeit. Lebt mit ihr oder gegen sie. Man lebt. Eine moderne Frau? Machten solche Fragen Sinn? Ging es nicht um die unverwechselbare Form des eigenen Lebens? Gab es ein anderes? Welchen Sinn erfüllte die Schaffung des Kunstwerks ›Frau‹ – oder war es eher ein Zweck?
Frauenbewegung, Feminismus und Frauenideologie sind auseinander hervorgegangen, doch es stellt sich die Frage, ob die Art und Weise, in der aus dem Feminismus eine Ideologie wurde, eine notwendige war. In einer bestimmten historischen Konstellation formierte sich die Frauenbewegung, um eine Reihe von ›bürgerlichen‹ Rechten für die Frauen zu erkämpfen, sei es das Wahlrecht, das Recht auf Zugang zur allgemeinen Bildung oder zu bis dahin den Männern vorbehaltenen Berufen. Für die Ende der Sechziger Jahre einsetzende zweite Frauenbewegung, eines ihrer Kernstücke war die Abtreibungsdebatte, lieferte der Feminismus das Unterfutter. In seiner radikalen Auslegung führte er – von Erfolgen berauscht und von vermeintlichen oder wirklichen Hemmnissen beflügelt – zur Frauenideologie. Die deutete die Welt als im Wesen weiblich. Eine schlichte Umkehrung. Die männliche Dominanz sollte sich in eine weibliche wandeln. Wo er ist, soll sie werden. Mit anderen Worten: es ging gar nicht um Gleichheit, sondern um die ›Machtfrage‹, die, einmal gestellt, nicht mehr aus der Welt zu schaffen war.
   © Acta litterarum 2009