Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 8/6
Sie endete aber nicht in einer realen Übernahme der Macht durch die Frauen, jedenfalls im öffentlichen Bereich. Im Gegenteil, die Frage nach der Macht wurde diffamiert und als im Ursprung männlich ›analysiert‹. Frau beanspruchte lediglich die Deutungsmacht, die sie als noch immer Unterdrückte anerkannte. Männliche Macht ist Gewalt. Weibliche Macht ist strukturell und informell. Claire hatte ihren Foucault gelesen. Die Definition war harmloser als ihre Wirkungen. Strukturell heißt auch, schwerer zu erkennen, oder: in der Wolle gefärbt. Informell heißt auch, etwas wollen, aber die Folgen dieses Wollens anderen aufbürden. Denen, die man in den Kampf schickt, den zu führen man selber sich scheute – aus Gründen, natürlich. Eine Form der Verblendung. Geblendet von den Möglichkeiten. Der Macht? Übersah frau, dass es ihr Leben war, das auf der Strecke blieb? Ach wo! Der Mann blieb auf der Strecke. Im Übrigen: Ein Ausdruck, der in einer mobilen Gesellschaft so manchen Hintersinn zeugte. Eine unbestimmte Sehnsucht zerrte an ihm wie eine lange Leine. Aber das Törchen blieb verschlossen. Die gute Macht der Frauen? Die Macht der guten Frauen? Nicht mehr warten. Die Einsamkeit der Männer lieben, anstatt zu warten, dass sie die eigene auflösen. Jenseits der unaufhebbaren Trennung zwischen Mann und Frau diesen gemeinsamen Kern – gemeinsamen, gleichen – der Einsamkeit lieben.
Ein neuer Mythos wurde installiert, der eine seiner Wurzeln im Glauben an das Matriarchat hatte, dessen Existenz als Tatsache gehandelt wurde, sei es in grauer Vorzeit oder bei sogenannten primitiven oder noch als ursprünglich angesehenen indigenen Kulturen.
   © Acta litterarum 2009