Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 8/7
In die Welt gekommen war dieses Geraune als vorgeblich solide Forschung. Johann Jakob Bachofen. Auf ihn wies alles zurück.
Johann Jakob Bachofen ist nicht der Entdecker des Matriarchats. Das hat es nicht gegeben. Es gab Matriarchatsmythen. Die hat er entdeckt. Ihre Entdeckung ist seine Leistung. Das bleibt. Er hat einen Mythos entdeckt und ihn als allgemeine historische Kulturstufe der Menschheit beschrieben. Mit der Identifizierung von Mythos und Logos, von Legende und Geschichte, hat er einen neuen Mythos geschaffen. Dieser von ihm neu verkündete Mythos hat zum Inhalt die sittliche und geistige Überlegenheit der Männer, die sich nach langen Kämpfen endlich gegen die kultische Überlegenheit der Frauen durchgesetzt haben. Dieser neue Mythos hat, ohne dass Bachofen dies gewusst hat, auch die objektive Funktion, die Männerherrschaft seiner und unserer Zeit zu legitimieren. Der große Mytheninterpret war, ohne es zu wissen, auch ein Mythenproduzent. Aitiologische Mythen wurden angesichts einer sich ankündigenden Frauenbewegung dringend benötigt. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gab es in Europa Forderungen nach Gleichberechtigung der Frauen. Aber erst im 19. Jahrhundert wurde es ernst. Die sechziger Jahre waren besonders wichtig. 1865 wurde in Leipzig der Allgemeine Deutsche Frauenverein gegründet. 1869 erschien John Stuart Mills Schrift über »Die Hörigkeit der Frau«, die große Wirkung hatte. Man brauchte Mythen. Das ist die Erklärung für die große Wirkung, die Bachofen dann bald mit seinem Buch hatte, das wenige Jahre vorher, 1861, erschienen ist.
   © Acta litterarum 2009