Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 8/8
Und so fein gewebt waren die Netze dieses Mythos, so stark seine ideologische Kraft, dass die Unterdrückten, große Teile der Frauenbewegung, sich wieder freiwillig an den Webstuhl gesetzt, ihn begeistert ausgeweitet und seine Verbreitung selbst unternommen haben. Das ist die List der Geschichte in ihrer häufigsten Form, nämlich als List eines Mythos. Sie setzt sich fort bis in unsere Tage und er, Johann Jakob Bachofen, ist zwar unbewusst, aber sicher nicht unschuldig, das Werkzeug dieser Wiedergeburt eines Mythos geworden.
Die Kraft der Mythen. All die ›Webstühle‹, an denen die alten ihre neue textura erhielten. Viele hundert Seiten lang war Claire in ihren Lektüren Madame Beauvoir gefolgt – Seiten, auf denen die Entstehung des als verdammenswürdig und unselbständig gebrandmarkten Typus’ ›Frau‹ empirisch bewiesen wurde. Als denkende Person verharrte sie noch im Stande der Unschuld. Von Alice Schwarzer seinerzeit als Standardwerk gepriesen. Leider hatte Claire sich auf diesen Seiten nicht wiederfinden können. Nicht nur die Zeitgebundenheit und die Widersprüchlichkeit der Argumentation hatten ihr das verwehrt.
Die Entwicklung dessen zum Beispiel, was an ihrem Körper ›weiblich‹ war, hatte keineswegs zu den von der Beauvoir beschriebenen und aus ihren zahlreichen (fast ausschließlich der französischen Literatur entnommenen) Lesefrüchten herausinterpretierten Gefühlen und Einstellungen geführt. Erst die Frauenideologie und ihre Art der Fragestellung hatten das Problem ins Blickfeld gerückt. Ein Problem, das ein Problem aufwarf, das man nicht hatte? Im Universum der Bücher war die Tatsache, eine Frau zu sein, eher zweitrangiger Natur. Gleichheit im Sinne einer Gleichwertig- und nicht einer Gleichartigkeit der Menschen, schien ihr damals das Selbstverständlichste von der Welt. Die Feministinnen wollten sie eines Besseren belehren.
   © Acta litterarum 2009